05.11.2020

Mein Leben

Ein Text von Julia Sass

Mein Name ist Julia Sass. Ich bin am 17.05.1981 geboren worden, aber bei meiner Geburt ist etwas schiefgelaufen. Ich bin nämlich nicht geradeaus gekommen, sondern ich wollte die Sterne angucken, das heißt ich bin mit dem Gesicht zuerst auf die Welt gekommen. Das hat ziemlich lange gedauert, dadurch hatte ich Sauerstoffmangel und seitdem habe ich eine Lernschwäche.

Auszug für mehr Selbständigkeit

Ich bin zusammen mit meinen zwei jüngeren Geschwistern bei meinen Eltern aufgewachsen. Ich bin dann in eine Schule gekommen mit Menschen mit Behinderung. Nach der Schule habe ich dann in zwei verschiedenen Werkstätten gearbeitet. In der zweiten Werkstatt habe ich meinen Partner kennengelernt. Ich habe zuerst zu Hause gewohnt, bis ich irgendwann gesagt habe, ich möchte meine Selbständigkeit weiter ausbauen. Als ich 20 Jahre alt war, bin ich in ein Wohnheim gezogen, um dort meine Selbständigkeit weiter ausbauen zu können. Ich habe gelernt Wäsche zu waschen und zu kochen. Im Wohnheim gab es Dienste. Alle acht Wochen hatte ich einen Wochen-Dienst gehabt. Dann habe ich morgens, nachmittags und abends den Tisch gedeckt und abgeräumt und außerdem die Küche sauber gemacht. Der Wochen-Dienst ging von montags bis sonntags.

Zuerst habe ich unten gewohnt. Wenn morgens eine Betreuerin kam und uns geweckt hat, war ich immer schon wach, weil ich immer selber einen Wecker gestellt habe. Irgendwann habe ich gesagt, ich möchte mich selber verpflegen, alleine für mich einkaufen und auch für mich kochen. Da habe ich mich von meinem Partner anstecken lassen. Der hat das auch so gemacht. Mit einer Mitarbeiterin, die für mich zuständig war, haben wir ein Hilfe-Plan-Gespräch gemacht. Wo ich dann nach oben gezogen bin, habe ich mich selber verpflegt. Damit ich das gut üben kann, habe ich mir die kleine Küche mit den Mitarbeitern geteilt und da konnte ich auch selber für mich kochen.

Glück zu zweit

Mein Partner hat auch in einem Wohnheim gewohnt, so wie ich. Das heißt wir haben nicht zusammengelebt. Einmal gab es eine große Feier, zu der durfte man Partner und Eltern einladen. Die Frau, die das Wohnheim leitet, hat uns dort gesagt, dass wir beide zusammenziehen können. Damit haben wir beide überhaupt nicht gerechnet. Ich hätte vor Freude weinen können. Wir haben dann zwei Wochen zusammen im Wohnheim gewohnt.

Wir haben geguckt, wie das überhaupt ist, wenn man sich in den Arbeits-Pausen sieht und dann noch die ganze restliche Zeit. Das hat sehr gut geklappt. Dann haben wir einen Ort vorgeschlagen bekommen, mit dem ich nicht einverstanden war. Irgendwann habe ich mich überreden lassen, dann doch in diesen Ort zu ziehen. Wir sind dann in eine Wohngruppe gezogen, in der wir unsere eigene Wohnung hatten.

Einmal im Jahr hatten wir ein Hilfe-Plan-Gespräch. Hier haben wir besprochen, welche Ziele wir haben und dann haben wir beide gesagt, dass wir gerne unsere eigene Wohnung ohne Betreuer haben möchten. Wir hatten auch schon eine Wohnung in Aussicht. Die Wohnung kannten wir schon, weil unsere Freunde nebenan wohnten. In diese Wohnung sind wir dann gezogen. Einmal in der Woche kam eine Betreuerin vorbei und hat nach dem Rechten geguckt, Gespräche geführt und uns beim Einkaufen begleitet.

Irgendwann hat unsere Betreuerin gesehen, dass ich meinen Partner pflege und dass ich damit sehr viel zu tun hatte. Sein gesundheitlicher Zustand hatte sich verschlechtert und er brauchte einen Rollstuhl. Zu dieser Zeit habe ich nicht mehr mit meinem Partner in der Werkstatt gearbeitet. Deshalb musste ich schon um 4 Uhr morgens aufstehen, damit alles klappt, weil mein Bus um 6:18 Uhr abfährt. Nach der Arbeit war ich dann auch für die Pflege von meinem Partner verantwortlich und musste zusehen, dass alles läuft. Ich hab‘ das gerne gemacht, gleichzeitig war es aber auch sehr anstrengend. Gemeinsam haben wir versucht einen Pflegedienst zu bekommen, um ein bisschen Unterstützung für mich zu haben. Am Anfang haben wir den Pflegedienst vom Kindergeld und Rentengeld selber bezahlt. Unsere Betreuerin hat gesagt, dass wir doch versuchen sollten, eine Pflegestufe zu bekommen. Das war aber ganz schön schwer, weil wir zu zweit waren. Hätte mein Partner alleine gewohnt, dann hätte er sofort Pflege bekommen. Der erste Antrag wurde abgelehnt und wir mussten dann mehrmals Widerspruch einreichen. Irgendwann hatten wir Glück und es kam jemand vorbei, der gesehen hat, dass wir wirklich Hilfe brauchen und wir haben endlich die Pflegestufe bekommen.

Spannende Herausforderung

Schon vor dieser Zeit wollte ich eine andere Arbeit ausprobieren. Ich habe mir vorgestellt in einer Schlosserei zu arbeiten, aber die war in einer anderen Werkstatt und in einem anderen Ort. Einen Fahrdienst hätte ich nicht bekommen. Ich wäre dann mit dem Zug und dem Bus sehr lange unterwegs gewesen. Das wollte ich nicht. Mir ist dann eingefallen, dass ich mit dem Begleitenden Dienst reden kann. Der Begleitende Dienst hat vorgeschlagen, dass ich mir einen Lebensmittelladen anschauen kann. Gemeinsam sind wir dann dorthin gefahren und haben uns das angeschaut. In dem Laden arbeiten Menschen mit Behinderung und ohne Behinderung zusammen. Wir haben dann ein Praktikum vereinbart, und dann habe ich einen Monat im Lebensmittelladen gearbeitet. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich habe mich sofort herzlich willkommen gefühlt. Ich habe gemerkt, dass ich mich hier entwickeln und viel Neues lernen kann.

Mein Leben: Julia Sass

© HHO / Bettina Meckel-Wolf

Die angestellten Mitarbeiter haben gemerkt, dass ich selbstständig arbeiten kann. Darum wollten die gerne, dass ich dort arbeite. Seitdem arbeite ich im Lebensmittelladen. Am Anfang konnte ich überhaupt nichts. Ich konnte keine Ware einräumen, keine Kasse machen und auch kein Leergut annehmen. Das habe ich dann nach und nach alles gelernt. Weil ich ein bisschen Probleme hatte mit dem Lesen, bin ich nach der Arbeit zur Schule gegangen und habe mein Lesen und Schreiben verbessert. Da ich nicht alles Obst und Gemüse kannte, habe ich im Internet mir die Bilder angeschaut und abgemalt. Dann konnte ich das üben.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, was ich alles geschafft habe, dann bin ich sehr stolz. Auch wenn ich eine Lernschwäche habe, kann ich mir komischerweise die Nummern für das Gemüse und Obst merken. Ich habe alles im Kopf. Das find‘ ich ein bisschen eigenartig, aber das hat man manchmal. Das ist meine Begabung. Ich habe gelernt mit der Kasse umzugehen und ich kann Leergut annehmen. Wir haben keinen Automaten für das Leergut. Das heißt, dass ich alles mit der Hand zählen muss. Ich kenne alle Schritte und weiß, wie viel Pfand-Geld es gibt. Denn man muss die einzelnen Flaschen und die Kisten unterscheiden. Das ist ganz schön kompliziert. Das heißt, die Kunden müssen ein bisschen warten, aber dafür müssen wir keinen Automaten sauber machen. Alles ist dadurch etwas sauberer.

Zeit der Trauer

Ich muss leider erzählen, dass mein Partner, mit dem ich ziemlich lange zusammengewohnt habe, 2008 leider verstorben ist. Die Welt ist für mich zusammengebrochen und ich habe ziemlich lange getrauert. Mir ging es sehr schlecht, mein Herz pumpte ganz lange und ganz schnell. Mein Puls war sehr hoch und das eine lange Zeit. Ich hatte große Angst, dass ich auch sterben muss. Deswegen hat meine Betreuerin eine Psychologin dazu geholt. Zu der bin ich dann regelmäßig gegangen. Eine Frau hat mir vorgeschlagen, dass ich zu einer Trauergruppe gehen kann. Das habe ich gemacht. Wir haben viele Gespräche geführt, Sachen gemalt, sind gemeinsam auf den Friedhof gefahren und waren füreinander da. Hier habe ich viele Freundinnen gefunden. In der Trauergruppe durfte man auch weinen. Die Trauergruppe löste sich dann auf und wurde zu einer neuen Gruppe. Gemeinsam sind wir auch weiterhin füreinander da und treffen uns sehr regelmäßig.

Nachdem mein Partner verstorben war, hatte ich Angst, dass ich wieder ins Wohnheim ziehen muss. Ich habe kurz bei meinen Eltern gewohnt und bin dann bei der Ambulanten Assistenz in eine Art Notzimmer eingezogen. Ich habe viel Unterstützung bekommen in der schlimmsten Trauerzeit. Ich wollte nicht mehr zurück in unsere gemeinsame Wohnung. Meine Betreuerin hat mir Mut gemacht, dass ich auch allein leben kann. Ich habe meine Selbständigkeit noch weiter ausgebaut und bin in eine neue Wohnung umgezogen. Am Anfang mochte ich nicht kochen, meine Betreuerin hat dann gemeinsam mit mir gekocht. Wir reden auch viel miteinander und wir haben viel darüber gesprochen, wie es mir geht. Seitdem lebe ich allein und zweimal in der Woche kommt eine Betreuung vorbei.

Zuversichtlich in die Zukunft

Ich habe es eine ganze Zeit geschafft, stark zu sein, bis ich dann 2011 einen Zusammenbruch hatte. Meine Betreuerin hat das erkannt und mir geholfen eine Kur zu beantragen. Ich bin dann zur Kur gegangen und hab‘ mich nach und nach wieder erholt. Ich habe nach der Kur mit der stufenweisen Wiedereingliederung angefangen zu arbeiten. Ich habe in der Zeit sehr viel gelernt und auch keinen Zusammenbruch mehr gehabt. Seit dem Tod von meinem Partner habe ich Angst, jemanden zu verlieren, der mir wichtig ist. Ich sollte dann eine zweite Betreuerin bekommen, zusätzlich zu meiner Betreuerin. Das hat mir große Angst gemacht, da ich Sorge hatte, dass sie gehen muss. Meine Psychologin, hat zu mir gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll und dass die Betreuerin bestimmt bleibt. Das ist auch so gewesen. Jetzt habe ich zwei Betreuerinnen und jede kommt einmal pro Woche zu mir. Wenn jetzt eine neue Betreuerin dazu kommt, dann habe ich auch keine Angst mehr.

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