Erfolgsautorin Sandra Roth hat auf Einladung der Lebenshilfe Osnabrück aus ihrem neuen Buch „Lotta Schultüte“ gelesen – dem Nachfolger des Inklusions-Bestsellers „Lotta Wundertüte“.
Auf die Frage, wer zu ihren Lesungen komme, sagte Sandra Roth im Gespräch vor der Lesung am 29. November 2018 in der Osnabrücker Stadtbibliothek: „Es kommt darauf an, wer einlädt und wo es stattfindet.“ Bei Veranstaltungen der Lebenshilfe in deren Räumlichkeiten, kämen oft ausschließlich Menschen, die mit dem Thema „Behinderung“ vertraut seien. Bei eher kulturell ausgerichteten Veranstaltungen käme ein vornehmlich kulturell interessiertes Publikum. Der Unterschied: „Die sich auskennen, lachen eher!“ In Osnabrück wurde gelacht – einige Zuhörer hatten allerdings auch Tränen in den Augen.
Offensichtlich führte die Kombination aus Lebenshilfe Osnabrück und Literaturbüro Westniedersachsen sowie der Veranstaltungsort im Lese-Café der Stadtbibliothek dazu, dass beide Zielgruppen kamen, um der Kölner Autorin und Journalistin Sandra Roth zuzuhören. Die 70 bereitgestellten Plätze reichten jedenfalls nicht aus.
Mit diesem Publikums-Mix war auch schon eines der erklärten Ziele von Sandra Roth erreicht: „Ich möchte Brücken bauen zwischen den Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen einerseits und den ‚Nicht-Betroffenen‘ andererseits.“ Das gelingt an diesem Abend. Es gelingt zum einen, weil Sandra Roth so ist, wie sie sich selbst in dem Buch beschreibt: „Wenn ich alleine unterwegs bin, fragen mich die Leute nach dem Weg oder reden mit mir über das Wetter, als hätte ich ‚Sprich mich an’ auf die Stirn tätowiert. … ‚Du musst nicht allen Menschen ins Gesicht schauen‘ hat meine Mutter einmal gesagt, als ich in die Pubertät kam. ‚Die können das falsch verstehen.“ Sandra Roth hält sich offensichtlich nicht an den Rat ihrer Mutter. Sie sieht dem Publikum immer noch offen ins Gesicht - wenn sie nicht gerade aus ihrem neuen Buch „Lotta Schultüte“ liest.
Nachdem Roth in „Lotta Wundertüte“ den von Operationen und Ängsten überschatteten Start ihrer Tochter ins Leben bis hin zum Besuch der Kita beschrieben hat, schildert sie in „Lotta Schultüte“ nun Lottas sechstes Lebensjahr. Das ist geprägt von der Suche nach der „richtigen Schule“ für die schwer mehrfachbehinderte Tochter. Bei der Schuluntersuchung bestätigt eine verständnisvolle und zugewandte Ärztin der neugierigen Lotta, dass sie außerdem mehrfachcharmant ist – was leider nicht durch einen entsprechenden Ausweis bescheinigt wird. Immer wieder beschreibt Sandra Roth in ihrem Buch aber auch die Suche nach der „richtigen Schule“ für ihren Sohn Ben, für den der Wechsel auf die weiterführende Schule ansteht.
Und das ist ein weiterer Grund, warum Sandra Roth als Brückenbauerin erfolgreich ist: Sie hat beide Seiten im Blick. Und sie spielt diese nicht gegeneinander aus – sie versteht beide Seiten: „Egal, ob es um Leben oder Tod geht oder nur darum, dass dein Kind die Deutscharbeit vergeigen könnte – es ist nie leicht“, schreibt sie an einer Stelle. Sie nimmt das Publikum an diesem Abend ebenso wie in ihrem Buch mit auf die intensive, emotionale Achterbahnfahrt des ganz normalen Lebens: Wut und Enttäuschung angesichts des ablehnenden „Gewickelt wird hier nicht“, das der Rektor einer gut ausgestatteten inklusiven Schule der Mutter beim Tag der (dann doch nicht so ganz) offenen Tür entgegenschleudert; Freude bei der inklusiven Geburtstagsparty; Rührung bei den Worten des großen Bruders: „Du bist das schönste Kind der Welt, Lotta“; Nachdenklichkeit bei den Zahlen und Fakten zum Thema Inklusion, die Sandra Roth immer wieder in ihr Buch einfließen lässt. Und dann sind da auch die Lacher, zum Beispiel wenn sie eine Begebenheit mit „Behindertenbonus“ beschreibt.
Sandra Roth wechselt immer wieder die Perspektive, lässt die Hörer an diesem Abend und die Leser in ihrem Buch an den Erfahrungen und Positionen derer teilhaben, mit denen diese sich sonst vielleicht nur selten oder nie auseinandersetzen. So fallen Mauern und so können Brücken gebaut werden. In der Zerrissenheit zwischen allen Positionen, behält sie selbst immer ein Ziel im Auge: Das Wohl ihrer Kinder und ihrer Familie, für das sie sich bedingungslos einsetzt. Sie tut es ohne ideologische Verbissenheit. Deshalb wird Lotta letztlich in der Förderschule eingeschult. Diese Entscheidung fällen die Eltern nach vielen Erlebnissen auf der Suche nach der richtigen Schule, nach Abwägen und In-Frage-Stellen, nach einem Prozess, in dem die Autorin auch immer wieder ihre eigene Zerrissenheit beschreibt. „Auf der Förderschule wird Lotta am besten gefördert, so dass sie eines Tages einmal ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen kann“ begründet Sandra Roth die Entscheidung. Denn ihr Wunsch „für Lotta müsste ich unsterblich werden“ wird sich wohl nicht erfüllen.
Das Publikum an diesem Abend ist begeistert von Sandra Roths Lesung. „Sie hat das so fantastisch beschrieben“, sagt ein Gast, der extra aus Kassel angereist ist. „Sie nennt die Dinge beim Namen“, meint eine Zuhörerin. Einige im Publikum betonen, wieviel doch eigentlich alle Eltern gemeinsam haben: Die Sorge um die Kinder und die Freude an deren Entwicklung - so unterschiedlich sie auch sein mag: „Es ist schön, dass Sandra Roth allen davon erzählt.“ So könne Verständnis füreinander entstehen und wachsen.
Doch wer den anderen versteht, sollte sich auch für dessen Bedürfnisse stark machen. Marco Hörmeyer, der den Abend „als bekennender Sandra-Roth-Fan“ moderiert, fragt die Autorin, ob denn als erstes die Haltung oder die Rahmenbedingungen geändert werden müssten, damit eine inklusive Gesellschaft gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 auch in Deutschland gilt, gelingen könne. „Es ist ein Zusammenspiel: Nur wenn die Haltung stimmt, kann ich die Rahmenbedingungen nutzen; nur wenn die Rahmenbedingungen stimmen, ist Haltung mehr als hohles Gerede. Wir brauchen beides!“ betont Sandra Roth. Bücher wie „Lotta Schultüte“ und Menschen wie Sandra Roth können dazu beitragen, dass beides sich ändert.
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